„Das Ziel einer spürbaren Reduktion der vermeidbaren Lebensmittelabfälle können wir nur gemeinsam erreichen.“
– Steffen Ortwein im Gespräch mit Magazin für Restkultur –

[07|14] 2012 wurde die Informationskampagne Zu gut für die Tonne vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) ins Leben gerufen. Ziel der Kampagne: Die Lebensmittelverschwendung nachhaltig zu verringern. Denn: Jeder Bundesbürger wirft einer Untersuchung zufolge statistisch gesehen jedes achte Lebensmittel, das er kauft, in den Müll – knapp 82 Kg pro Kopf und Jahr. Wir wollten mehr über die in Teilen kontrovers diskutierte Initiative wissen (siehe dazu einen Appell des Filmemachers Valentin Thurn*) und haben mit dem Projektkoordinator Steffen Ortwein über Zu gut für die Tonne gesprochen.
Magazin für Restkultur: Noch ist auf Ihrer Seite unverändert von den 82 Kg Lebensmittel, die jährlich pro Person weggeschmissen werden zu lesen. Wann schätzen Sie, kommen wir runter von dieser Zahl und welchen Idealwert wünschen Sie sich? Und überhaupt: Warum werfen wir eigentlich so viele Lebensmittel weg? Steffen Ortwein: Mit unseren Aktivitäten möchten wir einen Beitrag leisten, um das EU-weit gesteckte Ziel einer Halbierung der vermeidbaren Lebensmittelabfälle bis 2020 zu erreichen. Zum Start der Kampagne hatte das Bundesernährungsministerium eine Studie* der Universität Stuttgart über Lebensmittelabfälle vorgestellt. Ihr zufolge entsteht der Großteil der Lebensmittelabfälle (61%) in Privathaushalten, gefolgt von Großverbrauchern wie Kantinen sowie der Industrie (jeweils 17%). Zu Ihrem zweiten Teil der Frage: Uns ist die Wertschätzung verloren gegangen. Wir haben keinen Mangel an guten und gesunden Lebensmitteln. Wir können täglich unter 170.000 Produkten im Lebensmittelhandel auswählen. Wir leben im Überfluss. Das ist ein großer Erfolg der vergangenen Jahrzehnte. Aber dieser Luxus hat auch eine Schattenseite: Was immer ganz selbstverständlich zur Verfügung steht, wird oft nicht wertgeschätzt. So landen viele Lebensmittel allzu schnell in der Tonne. Das betrifft vor allem Obst und Gemüse. Ob welker Salat, schrumpelige Möhren oder Äpfel mit Druckstellen – all das, was bei falscher Lagerung schnell unansehnlich wird, landet am häufigsten im Müll. Andere Gründe finden sich beim Einkauf: Wir lassen uns verführen, wir greifen voreilig zu Großpackungen, obwohl wir sie nicht aufbrauchen oder wir prüfen zu selten den Vorratsschrank. Es sind viele kleine Handlungen, zu denen wir uns verleiten lassen, die sich aber ganz einfach vermeiden ließen.
mgzn-rstkltr: Wie funktioniert Zu gut für die Tonne? Wir betreiben in erster Linie Verbraucheraufklärung. Um das Bewusstsein für die Wertschätzung von Lebensmitteln zu schärfen, bieten wir Hintergrundinformationen sowie Tipps und Tricks für den Alltag: Vom planvollen Einkauf über die richtige Lagerung bis hin zur Resteverwertung – wir wollen konkrete und praktische Verhaltenshinweise für einen verantwortungsbewussteren Umgang mit Lebensmitteln geben. Zentraler Bestandteil ist dabei die Website zugutfuerdietonne.de. Wer Kochideen für Reste sucht, wird in der großen Rezeptdatenbank fündig. Als mobilen Lebensmittelretter gibt es die ZugutfürdieTonne-App für Smartphones und Tablets: Hier finden sich ebenfalls schmackhafte Resterezepte sowie Tipps zum Einkauf und zur richtigen Aufbewahrung der Lebensmittel. Bei unseren Veranstaltungen vor Ort organisieren wir gemeinsam mit Partnern unter dem Motto „Wir retten Lebensmittel“ Mitmach-Aktionen für Bürgerinnen und Bürger. So vermitteln wir Lebensmittelwertschätzung ganz praxisnah, indem gerettete Lebensmittel vor Ort zu einem schmackhaften Eintopf werden. Nicht zuletzt setzen wir auf unsere Infomaterialien wie Broschüren, Bastelbögen, Aufkleber, Postkarten und Plakate. Diese stellen wir kostenfrei zur Verfügung. Sie können auch in höherer Stückzahl über die Website bestellt werden. Unsere Materialen können sowohl bei privaten Veranstaltungen, auf Regionalmärkten, in Unternehmen als auch in Schulen oder Kindergärten zum Einsatz kommen.
mgzn-rstkltr: Welche Bilanz ziehen Sie nach knapp zwei Jahren Ihrer Plattform? Hat sich das Verbraucherverhalten nachhaltig verändert? Wenn Sie einen Appell an unsere Leser richten könnten – welcher wäre das? Innerhalb der vergangenen zwei Jahre haben wir mehrere Hunderttausend Besucher auf der Webseite verzeichnet. Auch die steigende Zahl der damit verbundenen Anfragen und Materialbestellungen freut uns sehr, denn sie zeigen, dass viele Verbraucher der Verschwendung nicht gleichgültig gegenüber stehen. Jeder einzelne kann dazu beitragen, dass weniger weggeworfen wird. Wer seine Lebensmittelabfälle reduzieren möchte, fängt am besten mit einem bewussteren Einkauf an. Also vorher einen Blick in den Kühlschrank oder Vorratsschrank werfen und schauen, was noch da ist. Überlegen, was möchte ich diese Woche eigentlich kochen? Fehlen dafür Lebensmittel? Esse ich außer Haus oder kommen Gäste? Alles was tatsächlich benötigt wird, kommt auf den Einkaufszettel. Die richtige Lagerung von Lebensmitteln tut natürlich ihr Übriges, um Lebensmittel vor vorzeitigem Verderb zu schützen. Natürlich freuen wir uns sehr, wenn Bürgerinnen und Bürger eigene Aktionen zum Thema Lebensmittelwertschätzung starten: Ob eine Ausstellung zum Thema, ein Referat oder Vortrag oder gar ein ganzer Projekttag – mit unserem Kommunikationsbüro stehen wir mit Rat und Tat zur Seite und zeigen verschiedenste Möglichkeiten auf, wie man sich gegen Lebensmittelverschwendung engagieren kann.
mgzn-rstkltr: Werden neben den Endverbrauchern auch der Handel und die Industrie in die Aktivitäten von Zu gut für die Tonne einbezogen? Natürlich streben wir ein breites Bündnis an. Es gab auf Minister- als auch auf Arbeitsebene Gespräche mit Herstellern, Handel, Handwerk und Großverbrauchern. Diese Gespräche weden wir fortsetzen, denn wir brauchen konkrete Beiträge aller Akteure zur Reduzierung der Lebensmittelabfälle. Speziell mit einigen Handelsunternehmen gab es erfolgreiche Kooperationen: Beispielsweise haben wir mehrere tausend Infobroschüren durch Auszubildende von Real-Märkten verteilt, die in ihrem jeweiligen Markt Info-Veranstaltungen für Verbraucher durchgeführt haben. Gemeinsam mit den Landfrauen haben wir in PENNY-Märkten praktische Tipps gegen Lebensmittelverschwendung gegeben.
mgzn-rstkltr: Vereinzelt wird Kritik daran geübt, dass es eine überwiegend auf den Endverbraucher zugeschnittene Kampagne sei. Was sagen Sie dazu? Der Großteil der Lebensmittelabfälle (61%) entsteht nun mal in den 40 Millionen privaten Haushalten. Deshalb richtet sich die Initiative Zu gut für die Tonne in erster Linie an die Verbraucherinnen und Verbraucher. Wir brauchen wieder mehr Wertschätzung für unsere Lebensmittel. Denn was wir wertschätzen, landet nicht so schnell in der Tonne. Wir müssen also unser eigenes Verhalten kritisch hinterfragen und verändern. Dafür brauchen wir einen langen Atem. Deshalb werden wir die Initiative in den nächsten Jahren auch fortsetzen. Auch wenn sich die Initiative Zu gut für die Tonne in erster Linie an die Verbraucherinnen und Verbraucher richtet, finden auch mit allen anderen Beteiligten in der Lebensmittelkette Gespräche statt. Denn das Ziel einer spürbaren Reduktion der vermeidbaren Lebensmittelabfälle können wir nur gemeinsam erreichen. Erfolgreiche Projekte zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen stellen wir übrigens regelmäßig in unserer Rubrik „Beispielhaft“ vor.
mgzn-rstkltr: Gängige Praxis ist weiterhin, dass Gemüse und Obst bestimmte Normen erfüllen müssen, so dass ein Teil der Ernte nicht verkauft werden kann. Sehen Sie hier Handlungsbedarf? Ja, aber es ist auch schon eine ganze Menge geschehen: So wurden auf EU-Ebene der Großteil der Vermarktungsnormen abgeschafft. Von ehemals 36 gibt es noch zehn. Aber der Handel hat seine eigenen Normen und Handelsklassen etabliert. Der Kunde erwartet auch zu recht eine bestimmte Qualität für den Preis, den er zahlt. Es gibt meines Erachtens zu wenig Angebote in einer niedrigeren Handelsklasse. Erfreulicherweise gibt es im Handel auch Testverkäufe für Agrarprodukte mit Schönheitsfehlern. Aber das ist längst noch kein flächendeckendes Angebot. Auf den Wochenmärkten und beim Direktverkauf gibt es mehr Vielfalt.
mgzn-rstkltr: Können Sie sich auch vorstellen, dass MHD- oder spezielle Schwerpunktkampagnen gestartet werden oder geschieht das bereits? Auf zugutfuerdietonne.de veröffentlichen wir jeden Monat einen Schwerpunkt, der sich unter anderem auch mit Themen wie dem Mindesthaltbarkeitsdatum beschäftigt. Dieses ist keinesfalls ein Wegwerfdatum. Es garantiert, dass das Produkt bei richtiger Lagerung bis zu diesem Termin seine spezifischen Eigenschaften wie Geruch, Geschmack und Konsistenz behält. Danach heißt es die eigenen Sinne zu gebrauchen: Was gut aussieht, gut riecht und schmeckt, kann auch nach Ablauf des MHD gegessen werden.
mgzn-rstkltr: Sehen Sie einen besonderen Schwerpunkt in der Sensibilisierung von Kindern und Jugendlichen – also der Arbeit an Schulen? Ja, in der Kindheit wird der Grundstein für unser späteres Verhalten gelegt. Daher ist es wichtig, Kindern von klein auf beizubringen, dass unsere Mittel zum Leben kostbar sind, aber eben zum Teil auch leicht verderblich. Von der richtigen Aufbewahrung hängt auch die Haltbarkeit ab. Speziell für die kleineren Kinder haben wir einen Bastelbogen entwickelt, mit dem sie spielerisch lernen können, wo die Lebensmittel hingehören und was man zusammen lagern darf. Auch viele Erwachsene wissen nicht, dass beispielsweise Äpfel und Tomaten das Reifegas Ethylen ausströmen. Sie sollten also immer getrennt von anderen Obst- und Gemüsesorten aufbewahrt werden. Unsere Motive sind übrigens gerade bei Kindern sehr beliebt. Sie sehen ja, dass der Apfel, das Brot und der Käse ein Gesicht haben und traurig oder erschrocken schauen. Da kann man dann anknüpfen und erklären, warum das so ist.
mgzn-rstkltr: Auch ich bin ja Verbraucher und komme kaum mit Ihrer Kampagne in Berührung – woran liegt das? Für großflächige Anzeigenschaltung oder Fernsehwerbung fehlt uns schlichtweg das Geld. Der Bundestag hat uns eine Million pro Jahr bewilligt. Zum Vergleich: Die Automobilbranche gibt über zwei Milliarden pro Jahr allein für Werbung aus. Dennoch haben wir mit unseren Mitteln eine hohe Bekanntheit erreicht. Laut einer Umfrage hat bereits jeder Zweite davon gehört. Die Kampagne kommt gut an und wir freuen uns über die vielen Anfragen. Die App ist über 580.000-mal heruntergeladen worden. Das ist ein großer Erfolg.
mgzn-rstkltr: Hat Zu gut für die Tonne selbst auch ein „Ablaufdatum“oder wird die Seite noch eine ganze Weile online bleiben (müssen)? Wir freuen uns sehr darüber, dass Bundesminister Christian Schmidt erst kürzlich unsere Kampagne verlängert hat, sodass wir auch in den kommenden Jahren unsere Verbraucheraufklärung fortsetzen können.
Wir danken für das Gespräch, Herr Ortwein!
* Die der Kampagne zugrunde liegende Studie wird in Teilen kontrovers diskutiert. Bemängelt wird unter anderem, dass die aus der Studie gezogenen Schlussfolgerungen eine überwiegend auf den Endverbraucher zugeschnittene Kampagne zur Folge hat und Industrie und Handel aus der Verantwortung entlassen werden. Siehe dazu: Im Gespräch mit Valentin Thurn.
©Fotos/Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung BMEL.
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