»Ich sehe foodsharing in zehn Jahren als weltweite Bewegung, die sich nicht nur gegen Lebensmittelverschwendung einsetzt, sondern sich generell der Ressourcenrettung widmet.«
– Raphael Fellmer im Gespräch mit Magazin für Restkultur –
[05|15]Knapp drei Jahre ist es her, dass die Plattform foodsharing.de an den Start ging. Aus der ursprünglich von einer Handvoll Aktiven betriebenen Organisation ist längst ein bundesweites Netzwerk erwachsen. Privatpersonen, aber auch zunehmend mehr Händler und Produzenten haben hier die Möglichkeit, überschüssige Lebensmittel in der nahen Umgebung mit anderen zu teilen – anstatt sie wegzuschmeißen. Einer der Mitgründer und Aktivisten der ersten Stunde ist Raphael Fellmer, den wir gebeten haben, nicht nur einen Blick auf die letzten drei Jahre, sondern auch einen in die Zukunft von foodsharing zu werfen.
Teile Lebensmittel – anstatt sie wegzuschmeissen
1. Vor fast drei Jahren hast Du die LebensmittelretterInnen ins Leben gerufen, die jetzt auch ein Teil von foodsharing sind – wie blickst Du auf diese Zeit zurück?
Mich begeistert, dass sich immer mehr Menschen für unsere Initiative interessieren und sich längerfristig gegen die Verschwendung von Lebensmitteln einsetzen – und so die Bewegung in dem Ausmaße überhaupt erst ermöglicht haben. Der Schritt hin zu einer professionellen Website, mit der alles koordiniert wird und die von Raphael Wintrich ehrenamtlich programmiert wurde, war für alle ein großes Geschenk. Die internationalen foodsharing-Treffen, wie zuletzt vor wenigen Tagen in Berlin, waren immer etwas ganz besonderes. Was noch nicht so gut ist, ist dass es foodsharing als Webplattform noch nicht Open Source für den Einsatz auch in anderen Ländern gibt – aber das ist bis Ende des Jahres dann hoffentlich der Fall. Wir haben schon jetzt gezeigt, dass man mit wenig oder gar keinem Geld ziemlich viel bewegen kann und ich bin sehr dankbar dafür, dass es so viele Menschen gibt, die sich nicht nur beschweren, sondern auch etwas machen. Wir sind mittlerweile über 6.000 Engagierte und retten jeden Tag bei fast 1.000 Abholungen rund 10.000 Kilo Lebensmittel vor der Tonne. Täglich kommen neue Betriebe, Dutzende Foodsaver und wöchentlich neue Fair-Teiler1 hinzu. Die Bewegung ist gut aufgestellt und wächst um 200 – 300% pro Jahr und dennoch gibt es unglaubliches Potenzial, denn tausende Tonnen Lebensmittel werden jeden Tag immer noch verschwendet.
2. 11 Millionen Tonnen Lebensmittel werden Schätzungen zufolge2 allein in Deutschland jährlich in den Müll geworfen. Im Laufe der letzten drei Jahre haben Foodsaver in Deutschland aber nur knapp 1,4 Millionen Kilogramm davor bewahrt, weggeschmissen zu werden. Behandeln wir nicht eher die Symptome, anstatt die Krankheit zu heilen?
Das was wir machen, kann man zwar als Symptombehandlung oder als Sisyphus-Arbeit betrachten, aber auf der anderen Seite darf man foodsharing nicht allein daran messen, wie viele Millionen Kilogramm Lebensmittel wir konkret gerettet haben. Durch unser Engagement haben wir ja erst die mediale Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt und damit viele Menschen zum Umdenken bewegt, die nun viel bewusster und achtsamer mit Lebensmitteln umgehen. Das gilt aber auch für viele Unternehmen, die jetzt die Warenbestellungen viel besser kalkulieren und Lebensmittel kur vor dem MHD vergünstigt verkaufen. Deutlich ist dadurch ja auch geworden, dass das Problem der Lebensmittelverschwendung nicht nur bei den Konsumenten angekommen ist, sondern auch bei den Produzenten und beim Handel. Insofern ist das ja etwas, was sich auf Dauer bemerkbar machen wird, weil es dann nicht darum gehen wird, wie viele Tonnen oder Kilos wir gerettet haben, sondern weil sich ja ein Wandel in der Gesellschaft bemerkbar gemacht haben wird – und das ist ja unser Ziel. So werden einfach nicht mehr so viele Lebensmittel weggeschmissen – sie werden erst gar nicht produziert und somit auch nicht in den Handel gebracht. Und genau das wollen wir bei einer weltweiten Lebensmitteln-Überproduktion von rund 50%.
Über 200 »Fair-Teiler« wie diesen in Berlin gibt es mittlerweile
3. Der Endverbraucher ist ja das letzte Glied in der Kette – was tut foodsharing dafür, dass der Handel und die Produzenten stärker in die Verantwortung gezogen werden?
Durch Kampagnen wie »genießt uns«, die foodsharing zusammen mit Aktionen mit der Welthungerhilfe, dem Bundesverband Deutscher Tafeln und der Verbraucherschutzinitiative in Nord-Rhein-Westfalen und dem WWF organisiert, versuchen wir auf politischer aber auch auf Handelsebene mehr Druck auszuüben beziehungsweise Best Practice-Methoden gegen Lebensmittelverschwendung zu verbreiten. So könnte man ja, wie zum Beispiel in Wallonien3, einfach unter Strafe stellen, dass noch genießbare Lebensmittel weggeschmissen werden. Es lässt sich aber auch daran denken, dass die Hygieneschutzverordnung etwas entschärft wird oder dass einfach Steuern auf Lebensmittel, die weggeschmissen werden, erhoben werden. So könnten Lebensmittel-„abfälle“, die noch genießbar sind – so wie etwa Sondermüll, der auch nicht in die Tonne gehört – mit einer Sondersteuer belegt werden. Das würde den Umgang mit Lebensmitteln komplett verändern und den Handel dazu bringen, sich zu überlegen, ob in einem solchen Maße weiter weggeschmissen wird. Das alles sind Maßnamen, die die Politik vorantreiben kann, anstatt alles nur auf den Endverbraucher zu schieben. Die Politik könnte auch konkrete Gesetze erlassen oder Programme wie in Großbritannien4 auflegen, wo ja auch gemeinsam mit der Wirtschaft erfolgreich nach Lösungen gesucht wird! Die deutsche Politik muss den Handel und die Produzenten einfach mehr in die Verantwortung nehmen und es nicht nur bei Worthülsen belassen. Was ich momentan sehe, ist dass Wirtschaftswachstum bei uns im Vordergrund steht und unsere Abhängigkeit davon manchmal stärker als Vernunft oder Ethik zu sein scheint. Mein Appell an den Handel: Habt Mut zur Lücke! Wir müssen wieder dahin kommen, verständlich zu machen, dass es nicht von schlechter Organisation, sondern von nachhaltigem Denken zeugt, wenn es einzelne Produkte vorübergehend nicht in den Regalen gibt. Die Allzeitverfügbarkeit von alles und allem muss nicht sein – und auch wir Verbraucher müssen das lernen! Wir Konsumenten haben viel mehr Macht als wir glauben, denn die Unternehmen richten sich nach uns. Sprich: wenn wir schräges, großes und kleines Obst und Gemüse verlangen und dieses auch kaufen, ändert sich viel schneller etwas als wenn wir einfach darauf warten, dass die Politik aktiv wird.
4. Was passiert, wenn das »Gesicht von foodsharing« Raphael Fellmer von heute auf morgen beschließt, aufzuhören?
Zunächst einmal werde ich nicht aufhören mich gegen die Lebensmittelverschwendung und damit für foodsharing zu engagieren! Zum Glück sind die Aufgaben von foodsharing mittlerweile auf vielen Schultern verteilt. foodsharing ist zwar ein bisschen wie so ein Baby von mir, aber es gibt mittlerweile schon ganz viele andere Mamis und Papis, die sich darum kümmern – das Baby läuft jetzt schon alleine und steht auf sehr sicheren Beinen. Ich bin zum Glück jetzt nur noch ein kleines Rädchen von ganz vielen Fleißigen und Hochengagierten Menschen und sehr dankbar, dass durch die Unterstützung von so Vielen foodsharing in dem Ausmaß überhaupt möglich wurde.
Immer mehr Menschen engagieren sich gegen Lebensmittelverschwendung
5. Ein Blick in die Zukunft: Wo siehst Du foodsharing in zehn Jahren?
Ich sehe foodsharing in zehn Jahren als weltweite Bewegung, die sich nicht nur gegen Lebensmittelverschwendung einsetzt, sondern sich generell der Ressourcenrettung und Verteilung widmet. Bis dahin wird sich ein Riesennetzwerk rund um den Globus aufgetan haben, das tatsächlich nicht mehr an den Symptomen herumdoktert. Dann werden wir auch die gesamte Kette von den Produzenten über den Verkauf bis zum Endverbraucher durchdringen. Wir retten ja jetzt schon nicht nur Lebensmittel: Wenn Kosmetik, Kleider oder Pflanzen in den Läden, in denen wir abholen, nicht mehr verkauft werden können, nehmen wir die ja auch mit. Noch widmen wir dem, was in Elektronik- oder Bekleidungsgeschäften weggeschmissen wird, zuwenig Aufmerksamkeit, aber das ist ja ein Riesenfeld. Meine Vision ist daher, dass es nicht nur beim Retten und Teilen von Lebensmitteln bleiben wird, sondern eine hochprofessionelle, praktische und effektive »Stuff-, Skill- und Space-Sharing«-Plattform beziehungsweise -Bewegung daraus entsteht. Dafür hat foodsharing das Potenzial und Millionen Menschen warten nur darauf, endlich eine ökologische und soziale Alternative zu Onlineversandhandel und Co. nutzen zu können!
1Fair-Teiler: An öffentlichen Plätzen/Orten aufgestellte Schränke/Regale/Kühlschränke, in die Lebensmittel deponiert und kostenfrei mitgenommen werden können. 2 11 Millionen Tonnen Lebensmittel, die jährlich in Deutschland weggeschmissen werden: Diese Zahl basiert auf der zum Teil kontrovers diskutierten „Stuttgarter Studie“ aus dem Jahr 2012 (Link zu der Studie) 3 Große Supermärkte in Wallonien sind seit März 2014 gesetzlich verpflichtet, unverkäufliche Waren karitativen Organisationen zu überlassen. 4 Programm gegen Lebensmittelverschwendung in Großbritannien: Seit mehr als fünf Jahren gibt es in Großbritannien die Kampagne „Love Food – Hate Waste“, die den Handel und Produzenten wesentlich stärker in die Verantwortung zieht als es beispielsweise die deutsche Kampagne „Zu gut für die Tonne!“ tut.
Die Frage an uns Wann immer möglich, bitten wir in unseren Gesprächen auch um eine Frage an uns – und machen den Interviewten kurzerhand zum Interviewer. Was wollen unsere Gesprächspartner über Magazin für Restkultur erfahren? Vielleicht sind es ja die gleichen Dinge, die auch unsere Leser von uns gerne wissen möchten. Die bisher gestellten Fragen – und unsere Antworten – sind unterFragen an uns zu finden.
Raphael Fellmer (Foodsharing) fragt:
Was habt ihr für ein Feedback seit dem Start von Magazin für Restkultur vor eineinhalb Jahren?
Schwer zu sagen, Raphael – dazu sind wir ja noch zu unbekannt und klein. Ich glaube aber, dass Außenstehende sich vielleicht fragen, »was wollen die von Magazin für Restkultur eigentlich – sind die jetzt eigentlich nachhaltig oder so?« Grundsätzlich gilt: Wir kümmern uns um den Rest, ohne eine spezielle Nachhaltigkeitsmission, was uns übrigens ziemlich frei macht, da wir ja kein Commitment haben. Was auch vielleicht ein bißchen irritiert und weshalb wir vielleicht nicht als »erwachsenes Magazin« betrachtet werden, ist dass bewusst auf Anzeigen verzichtet wird – das lehnen wir einfach ab. Es gibt nunmal keine Banner oder Anzeigen und wir Menschen sind es (vielleicht) nunmal gewohnt, dass uns immer etwas verkauft wird und wir erst dann sagen, dass etwas einen Wert hat, wenn die eigene Leistung sich in geldwerten Dingen widerspiegelt. Hoffentlich schaffen wir es aber irgendwann auch, eine Crowdfunding finanzierte Druckausgabe (natürlich auch ohne Anzeigen) zu veröffentlichen. Dazu kommt, dass wir sehr viele unterschiedliche Themen für ebenso unterschiedliche Interessengruppen aufmachen, womit wir uns nicht nur auf einen Punkt fokussieren können. Der Rest ist außerdem ziemlich ambivalent. Als Beispiel: Was bei den Upcyclern vielleicht unbedingt erwünscht ist, nämlich dass man aus vermeintlichen Resten etwas sinnvolles machen kann – ist ja bei Lebensmitteln ja genau das Problem. Jedenfalls hat noch niemand zu uns gesagt, »das ist voll für die Tonne, was die da machen« – was ja doch aber wieder irgendwie gut passen würde … »Fünf Fragen an … Raphael Fellmer 05|2015«
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