Earthship Tempelhof: Mit 1.000 Gebrauchtreifen für die richtige Bodenhaftung

Earthship Tempelhof: Bis zum Frühjahr 2016 soll der Inneausbau abgeschlossen sein.
Anders als es der Name vielleicht vermuten lässt, ist das »Earthship Tempelhof« kein Gefährt, das auf dem Gelände des ehemaligen Berliner Flughafens bereit zum Abheben oder Losfahren ist. Und das obwohl für seine Fertigung um die 1.000 Gebrauchtreifen zum Einsatz kamen, die nicht nur für ausreichend Bodenhaftung, sondern auch für entsprechende Dämmung sorgen sollen. Zusätzliche Verwirrung stiftet jetzt vielleicht nur noch der Umstand, dass es sich bei der zukünftigen Besatzung dieses besonderen »Schiffes« keinesfalls um eine Truppe abgehobener Idealisten handelt. Unter den knapp 25 »Crewmitgliedern« befinden sich schließlich – ganz bodenständig – Programmierer, Physiotherapeuten oder auch Unternehmer. Wir haben darüber mit Stefanie Raysz gesprochen, die das Projekt vom ersten Tag an begleitet hat.

Eine mehr als 40 Jahre alte Idee – erstmals in Deutschland
Schloss Tempelhof ist im schwäbischen und ländlich geprägten Kreßberg gelegen und hat mit seinem Berliner Widergänger folgerichtig nur den Namen gemein. Hierhin hat es in den vergangenen Jahren um die 140 Menschen verschlagen, die sich dem Ziel »einer ökologisch nachhaltigen, sozial gerechten und sinnerfüllten menschlichen Daseinsform« verpflichtet fühlen. Knapp 25 von ihnen – darunter auch die für die Öffentlichkeitsarbeit zuständige Stefanie Raysz – widmen sich seit knapp zwei Jahren dem Projekt »Earthship Tempelhof«. Bei einem »Earthship« handelt es sich allerdings nicht um ein Fahrzeug oder Schiff, sondern vielmehr um eine besondere Art von Gebäudekonzept, das seinen Ursprung in den USA hat. Dort entwickelte der Architekt Michael Reynolds schon vor knapp 40 Jahren seine Idee eines sich autark versorgenden Bauwerks, »das sich selbst heizt, sein Wasser liefert und Essen produziert.« Für den Bau eines Earthships, so der heute 70jährige, sollten außerdem Materialien eingesetzt werden, »die überall im Überfluss vorkommen oder durch das Haus selbst recycelt werden« könnten. Und: »Jeder Mensch sollte sich ein solches Haus ohne viel Geld und besondere Vorkenntnisse selbst bauen können.« Jetzt ist in Deutschland das erste von bislang knapp 2000 weltweit errichteten Earthships entstanden, bei dem allerdings einige Kompromisse eingegangen werden mussten.

»Lebendige Zelle« mit Kompromissen
An die vom Ideengeber Reynolds postulierten Vorgaben hat man sich in Tempelhof nicht immer halten können. So ist die Gewinnung von trinkbarem Regenwasser sowie die bei Earthships vorgesehene Nutzung von Abwasser nur bedingt mit deutschem Baurecht vereinbar. Und auch mit Blick auf die Selbstversorgung müsse man mit einigen Kompromissen leben, räumt Stefanie Raysz ein. Ganz klassisch Earthship sind aber die knapp 1.000 PKW-Gebrauchtreifen, die das Fundament des Gebäudes bilden und die als thermischer Speicher für die durch die großen Glasflächen einströmende Wärme fungieren. Diese sowie die unzähligen Altglasflaschen und Dosen, die in den Zwischenwänden eingebaut wurden, haben die Tempelhof-Aktivisten von regionalen Händlern erhalten. Solarzellen auf dem Schrägdach versorgen das Gebäude zusätzlich mit Strom. Wie hoch der Anteil der insgesamt recycelten Materialien ist, die für den Bau zum Einsatz kamen, kann Raysz aber nur schätzen. Dafür aber, dass sich die Kosten für den Bau auf knapp 360.000 Euro beliefen, seien nicht nur die weitestgehend nach ökologischen Gesichtspunkten ausgewählten Materialien verantwortlich. »Eine nicht unerhebliche Menge an Geld und an Mühen haben darüber hinaus die Übertragung und Übersetzung der von Michael Reynolds erstellten Zeichnungen und Pläne verschluckt – und das war ganz schön viel Arbeit«, beteuert sie.

Zehn Wochen Baugemeinschaft
Bei dem zehnwöchigen Bauprozess standen aber auch »das experimentelle Zusammenleben und Bauen, der kollaborative Bauprozess mit den späteren Bewohnern und Freiwilligen aus aller Welt sowie das Gebäude als ›lebendige Zelle‹ im Vordergrund«, betont Raysz. Dabei sei es nicht einzig darum gegangen, ein Gebäude zu errichten, so die ehemalige Pädagogin. »Das Earthship versorgt uns zwar mit Energie und Wärme und bietet uns ein Dach über dem Kopf – es lehrt uns aber, dass wir nur ein Teil vom Ganzen sind«, gibt sie sich überzeugt. Denn das Earthship zwinge seine Bewohner sich klar zu machen, woher die Ressourcen stammten, mit denen sie ihren Tag bestreiten würden. Sie ergänzt: »Mit dem Earthship tritt außerdem ein anderes Bewusstsein für jahreszeitliche Kreisläufe bei den Bewohnern ein.« Apropos Bewohner: Das Earthship Tempelhof wird zukünftig nicht so sehr eine Wohn- sondern vielmehr eine Zusammenkunftsstätte und Versorgungseinheit bilden und damit auch eine Ausnahme in Bezug auf die eigentliche Earthship-Bestimmung darstellen. Jurten und Bauwägen rund um das Gebäude bilden dann die eigentlichen Unterkünfte.

Mit Müll im Einklang mit der Natur?
Auf den ersten Blick erscheint es widersprüchlich, wenn ausgerechnet zivilisatorische Überbleibsel wie Reifen oder Altglas dazu beitragen sollen, im »Einklang mit der Natur zu leben«, wie es die Earthship-Enthusiasten auf ihrer Website schreiben. Doch einen solchen Widerspruch erkennt Raysz nur bedingt. »Müll«, sagt sie im Gespräch, »ist doch schließlich auch ein Produkt der Erde. Alles, was wir haben, haben wir nunmal der Erde entnommen, veredelt und umgewandelt. Nun setzen wir dies beim Earthship ein – darin sehe ich keinen Widerspruch.« Danach gefragt, ob sich Raysz denn aber vorstellen könne, nach den gesammelten Erfahrungen erneut an einem solchen Projekt zu arbeiten, sagt sie unumwunden: »Auf jeden Fall – ich wäre sofort dabei, denn wir haben soviel dabei gelernt und umgesetzt! Ob das jetzt alle Teilnehmer sagen würden,» ergänzt sie lachend, »weiß ich aber nicht!« Bis zum Frühjahr 2016 soll der Innenausbau abgeschlossen und das Earthship erstmal bezugsfertig sein. Ungeklärt bleibt indes nur, wie und ob der Ideengeber Reynolds auch für die Zeit danach geplant hat und wie ein Earthship nötigenfalls auch wieder zurückgebaut werden kann.

Zur Person
STEFANIE RAYSZ

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    • Stefanie Raysz (Jhrg. 1974), Bietigheim-Bissingen
    • Mutter von drei Kindern
    • Pädagogik- und Wirtschaftsstudium in Karlsruhe, Marburg, London und Berlin
    • seit 2014 unter anderem verantwortlich für PR und Öffentlichkeitsarbeit am Tempelhof
  • Reste sind für sie: Ungewollte Reste sind für mich beispielsweise Schüler, die keinen Ausbildungsplatz kriegen, weil sie vermeintlich nicht ins System passen, aber auch Flüchtende und Schutzsuchende, die vielleicht auf der Strecke bleiben und so gewissermaßen zu einer ›Restbevölkerung‹ werden könnten.
    ©Foto: Privat

©Fotos: Earthship Tempelhof mit freundlicher Genehmigung Stefanie Raysz

Weiterführende Informationen
DIE FRAGE AN UNS
Die Frage an uns
Wann immer möglich, bitten wir in unseren Gesprächen auch um eine Frage an uns – und machen den Interviewten kurzerhand zum Interviewer. Was wollen unsere Gesprächspartner über Magazin für Restkultur erfahren? Vielleicht sind es ja die gleichen Dinge, die auch unsere Leser von uns gerne wissen möchten. Die bisher gestellten Fragen – und unsere Antworten – sind unter Fragen an uns zu finden.
Stefanie Raysz (Earthship Tempelhof) fragt:
Wie bekommt ihr Aufmerksamkeit für eure Themen?
Um auf uns aufmerksam zu machen, sind wir als privat finanziertes Magazin darauf angewiesen, dass sich unsere Inhalte über soziale Medien oder per Empfehlung herumsprechen. Und bislang gelingt das auch ganz gut ohne Werbung, auf die wir ja verzichten wollen.Im Gespräch mit Stefanie Raysz rund um das »Earthship Tempelhof«

 

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