
Gastbeiträge auf Magazin für Restkultur
Auf Magazin für Restkultur lassen wir gelegentlich Autoren, Experten und andere Akteure zu Wort kommen – und zwar immer dann, wenn uns interessante Ideen begegnen, Veranstaltungsreports erreichen oder wenn wir glauben, dass sich mit „fremden Federn“ ungewohnte Winkel ausleuchten und neue Perspektiven einnehmen lassen. Restvermeidungs- oder -verwertungsideen können darin ebenso eine Rolle spielen wie vielversprechende Alternativen oder aber auch Ideen und Konzepte, die im weiteren oder engeren Sinne »Reste« in den Mittelpunkt stellen. Die von den Autoren geäußerten Ansichten müssen dabei weder im Ganzen noch in Teilen mit der Meinung der Betreiber von Magazin für Restkultur übereinstimmen. Alle Rechte der Gastbeiträge liegen bei den Autoren. Weitere Informationen unter Mitmachen und Copyright/Irrtuemer.
[12|14] Die Kategorie des Restes, so könnte man meinen, eignet sich ausschließlich zur Beschreibung gegenständlicher Schwundstufen. Aber ist das Restsein und Restwerdenkönnen wirklich nur den Dingen vorbehalten? Können nicht auch Menschen zu Resten werden, sich als Reste fühlen? Sind wir nicht alle von vorneherein und immer schon – Restbestände?
Ein Essay unseres Gastautors F. Müller
Der Rest des Lebens:
Alter, Krankheit, Siechtum.
Alter, Krankheit, Siechtum.
Es beginnt mit den normalen Verschleißerscheinungen. Irgendwann ist die Schwelle überschritten, an der sich die Symptome des eigenen Rückbaus und Verfalls aufreihen wie Perlen an einer Kette. Die körperliche Leistungsfähigkeit lässt nach, kognitive Fähigkeiten schwinden oder sind verlangsamt. Dafür stellen sich mit den Alterserkrankungen andere Begleiter ein. Doch sie haben ihre Rechnung ohne die moderne Medizin gemacht. Der modernen Heilkunst ist es zu verdanken, dass uns ein rechtzeitiges Abtreten nur noch in den seltensten Fällen vergönnt ist. Im Gegenteil erscheint der letzte Lebensabschnitt als in die Länge gezogen und zerdehnt zu einem scheinbar endlosen Wegdimmen. So wie ein Glas Alkohol durch Verdünnung mit Wasser seinen Prozentgehalt einbüßt, erreichen wir nicht nur ein höheres Lebensalter als noch vor fünfzig oder hundert Jahren, wir sterben auch länger. Das trostlose Dahinvegitieren der Alten in Seniorenstiften und Spitälern ist ein gutes Bespiel dafür, dass der Rest heute einen so großen Anteil unseres Lebens beansprucht wie nie zuvor. Wir sind deutlich länger Rest. Ein deutliches Anzeichen dieser Entwicklung ist die Karriere der „aktiven Sterbehilfe“. Wo die Lebensreste in den Himmel wachsen, werden automatisch Entsorgungsunternehmen auf den Plan gerufen, die sich um Stilllegung und Abtransport kümmern.
Sich selbst zum Rest machen:
Selbstmord.
Selbstmord.
So lange der Selbstmord existiert, so lange haben ihm seine Verleumder das Leben schwergemacht. Zu den gängigen Mustern der üblen Nachrede gehören Behauptungen wie die folgenden: Der Suizidant handle kurzschlüssig und mache es sich einfach. Er sei verantwortungslos und hinterlasse seinem sozialen Umfeld ein heilloses Chaos – nichts davon ist wahr. Man muss enorme Kräfte aufbringen, um sich gegen das Leben zu werfen. Denn vor dem Notausgang lauern zwei mächtige Gegner: der fast unüberwindbare Selbsterhaltungstrieb und die schlichte Todesangst. Daher kann man den Exit zum Exitus auch nicht ohne Vorbereitung passieren: Viele Selbstmörder, das zeigen die Statistiken, haben sich für den Kampf gegen diese Kräfte auf anderen Terrains fit gemacht, zum Beispiel als Alkoholiker oder Leistungssportler. Dazu kommt noch, dass Freitödler im Prozess des Zuendekommens genau den richtigen Moment abpassen müssen. Nur so sind Fälle erklärlich wie der des Lehrers, der kurz vor seiner Tat noch vor der gesamten Schule eine flammende Rede hält; oder des Sohns, der sich von seinem Vater eine größere Geldsumme leiht, bevor er Hand an sich legt. Von seinen Mitmenschen hat sich der Selbstmörder abgestoßen wie ein schwerelos im All fliegender Astronaut. Er hat alle sozialen Bindungen innerlich gekappt, deswegen greift auch der Vorwurf der „Asozialität“ nicht. Sich selbst den Rest zu geben – ein unerhört schwieriges und mutiges Unterfangen.
Reflektierend und produktiv:
Restkünstler.
Restkünstler.
Die eigene Restwerdung kann still und heimlich vor sich gehen, sie kann aber auch ein dem betroffenen Restsubjekt sehr bewusster Vorgang sein. Und es gibt Fälle, in denen Menschen – zumeist Künstler oder Schriftsteller – die an sich selbst beobachteten Vorgänge gestaltend oder schreibend verarbeiten. Wozu ist das gut? Wohl seltener handelt es sich um Katalysatoren, mit deren Hilfe das Ziel besser oder schneller erreicht wird, wie im Fall von Hermann Burgers „Tractatus logico-suizidalis. Über die Selbsttötung.“ (1988). Mit dieser „einmaligen Begründung eines einmaligen Suizids“ hat sich der Schriftsteller Burger seinem Selbstmord geplant und systematisch entgegengeschrieben. Mehrheitlich dürfte es sich bei der bewussten Beschäftigung mit der eigenen Hinfälligkeit um selbsttherapeutische Verfahren handeln: Man muss der Medusa ins Gesicht sehen, um ihr ihren Schrecken zu nehmen. Unheilsbewältigung durch Unheilsreproduktion, so lautet das Rezept, auf das zwei andere Restkünstler schwören: Hermes Phettberg und Ulrich Horstmann. Dabei können sie den eigenen Niedergang durch die produktive ‚Besprechung’ manchmal sogar in ein Genussmoment transformieren.
Die schamlose Wahrheit über den Rest: Hermes Phettberg.
Stets eröffnet von der Frage „Frucade oder Eierlikör?“, genoss Hermes Phettbergs „Nette Leit Show“ in den 90er Jahren eine Ausnahmestellung im österreichischen und deutschen Fernsehen. Selten zuvor hatte sich jemand öffentlich so bedingungslos ausgestellt wie der Talkshowmoderator: seine Fresssucht, seine körperliche Unattraktivität, sein Schwulsein, sein Getriebensein von sado-masochistischen Neigungen und Fetischen, den „Jeansboys“. Und selten hatte sich jemand dabei so offen, herzlich und so verletzlich gezeigt. Schlecht ergangen ist es dem „Elenden in Wien“, wie er sich selbst gerne nennt, in den letzten Jahren: drei Schlaganfälle, der letzte ein Hirnschlag, dazu Diabetes mellitus. Heute lebt der frühere Exzessmensch Phettberg in einer verwahrlosten („herrlich versauten“) Wohnung im Viertel Mariahilf, durch das er sich nur noch mit dem Rollator bewegen kann, verarmt und nur betreut von seinen liebevoll „Nothelfys“ genannten Heimhilfen. „Ich kann fast nichts mehr, nur mehr schwer radebrechen“, sagt Phettberg, der seine wöchentlichen E-Mail-Sendschreiben an Freunde und frühere Fans inzwischen einem Betreuer in die Tasten diktiert. Der zum klapprigen Männchen abgehalfterte Koloss schreibt über Tagesaktualitäten und Kultur, aber auch über seine Kindheit, seine von einem Antidepressivum induzierten Träume, seine Ernährung – und darüber, wie er mitten im Gottesdienst „Lulu“ machen musste und die „herzlieben Schwestern“ nachher alles wegwischten. Stellvertretend herausgegriffen sei ein Eintrag vom 02.10.2014: „Special Agent Kraft hat mich heute wieder gewaschen und geduscht und gesalbt und die Haare mir schön gemacht usw., und hat mich gewogen, und ich bekam ‚85 Kilo’ Alarm Alarm Alarm! Und ich habe einen Riesenhaufen geschissen danach. Ich könnte inzwischen darauf schwören, dass ich nur jeden dritten Tag scheißen kann.“ An der gänzlich ‚unverschämten’, unverstellten und entwaffnend ehrlichen Zurschaustellung privater Restwerdung brechen sich unsere Vorstellung von Sitte und Anstand. Und eben darum wird in ihrem Schlaglicht sichtbar, was uns mehr oder weniger erwartet. Nachzulesen sind die berührenden Protokolle des Verkommens auf phettberg.at (Menüpunkt „Gestion“).
Versacken mit Weichzeichner:
Ulrich Horstmann.
Ulrich Horstmann.
Ulrich Horstmann ist Kleist-Preisträger des Jahres 1988. Der „westfälische Untergangshofer“ machte den friedensbewegten 80er Jahren mit seinem apokalyptischen Bestseller „Das Untier“ (1983) Furore. In dem mit „Konturen einer Philosophie der Menschenflucht“ untertitelten Buch empfiehlt Horstmann seinen empörten Zeitgenossen, die irre Kriegstreiberei des homo sapiens durch die bewusste und geplante Ausmerzung der gesamten Gattung Mensch ein für allemal zu beenden. Nicht Abrüstung, sondern entschiedene Aufrüstung und Ausnutzung aller Overkill-Kapazitäten sei die richtige Lösung. Vom Bedenken einer kollektiven Restwerdung ist Horstmann in den letzten Jahrzehnten zur Reflexion der eigenen Halbwertszeit übergegangen. So heißt es in der Aphorismensammlung „Einfallstor“ (1988): „Irgendwann zwischen vierzig und fünfzig erreicht man die dritte Welt. Die alten Vertrautheiten, nur überwachsen von Rührmichnichtan, die alten Bekannten in Elefantenhaut, jede Aussicht rundumverglast. Auf Schritt und Tritt feine Brechungen, andeutungsvolle Spiegelreflexe. Das Elend lüftet sein Inkognito, verbeugt sich aus der Radkappe, vor der du mit einem Streichholz die verbleibende Profiltiefe mißt.“ Ermüdungserscheinungen, Rückzug in den inneren Kokon und der Vorblick auf die „Welt-ohne-mich“ haben die frühere Subversität abgelöst. Der „angry young man“ hat sich zum versöhnlichen älteren Herren geläutert, der die ihm noch verbleibende Lebensspanne taxiert. Dabei scheint die weichgezeichnete Welt gleichzeitig die Schrecklichkeit dieser Beobachtungen zu dämpfen. Wir werden zu Resten? Don’t panic.
Immer schon Rest sein:
Leben ist Sterben.
Leben ist Sterben.
Ist die Restwerdung demnach ein Vorrecht der Alten und Siechen? Mitnichten! Denn neben den Äußerlichkeiten existiert noch ein Innenverhältnis, über das man sich der eigenen Endlichkeit zuwenden kann. Hören wir deshalb noch einmal bei Horstmann nach, der sich in seiner Aphorsimensammlung „Hirnschlag“ (1983) als „senilen Frühdreißiger“ beschreibt, der sich mit den Greisen, die ihm auf der Münsterschen Promenade entgegenwanken, „eigentümlich wesensverwandt“ fühlt. Wer den Kopf auf die Hand stützt, wiegt damit gleichsam den eigenen Totenschädel, heißt es in einem anderen Aphorismus. Die Selbstwahrnehmung, die darin zum Ausdruck kommt, zeigt ein ,Vorauseilen‘ des Selbstgefühls über das Hier und Jetzt hinaus, gewissermaßen ein Vorauslaufen in den Tod. Damit geht bei Horstmann einher, dass er den Tod als Kontinuum betrachtet und nicht als punktuellen Vorgang: als Absterben über Jahrzehnte. Folgt man dieser Interpretation, so ist auch das Leben eines jungen Menschen etwas im Grunde Abgeschlossenes und Nachzüglerisches – so wie ein in die Dunkelheit nachgezerrtes Rücklicht eines Autos, das sich in voller Fahrt auf den toten Punkt zubewegt.
Ein Rest schlechthin:
der tote Körper.
der tote Körper.
Die offensichtlichste Form eines menschlichen Restes ist sicherlich die menschliche Leiche. Sie ist gleichzeitig weniger als ein Rest, da sie nur noch wenige Qualitäten besitzt, die einst den lebendigen Menschen auszeichneten. Der ‚Kadaver’ hat sein Leben ausgehaucht, er ist bloße Materie, leere Hülle, Abfall, Müll. Allein unsere religiösen Traditionen verbieten es, ihn auch so zu behandeln. In Situationen allerdings, in denen die Gattungsloyalität aufgehoben erscheint (z.B. in Kriegen) werden auch die (feindlichen) Toten wie würdelose Reste ‚entsorgt’. Aber auch in Friedenszeiten muss der menschliche Körper auf ein fürsorgliches Recycling keineswegs verzichten. Die Recycling-Beauftragen tragen allerdings weiße Kittel und nennen sich Transplantationsmediziner, und der Prozess selbst wird mit einem viersilbigen Euphemismus belegt: Organspende.
Die menschliche Existenz als Rest:
Restphilosophie.
Restphilosophie.
Der philosophische Pessimismus verdammt das gesamte menschliche Dasein grundsätzlich als schäbigen und unliebsamen Restbestand. Unsere Existenz ist nichtswürdig, es ist mit dem rumänischen Philosophen ein „Nachteil, geboren zu sein“ (Franz. E.A. 1973). Ciorans inniger Wunsch: „Ich möchte frei sein, aufs äußerste frei. Frei wie ein Totgeborener.“ ist allerdings uneinholbar, denn: „Es lohnt nicht die Mühe sich zu töten, denn man tötet sich immer zu spät.“ Nach Arthur Schopenhauer ist noch unser Tod eine „große Zurechtweisung, er kann aufgefasst werden als Strafe für unser Daseyn“. In einem so gelagerten Verständnis der menschlichen Existenz ist der Rest kein defizienter Modus oder Derivat von etwas Vollständigem, Besserem oder eine liebenswerte Unvollkommenheit. Er ist a priori und unwiderruflich von Übel, ein Ärgernis, eine Krankheit. Pessimisten wie Horstmann scheuen deshalb nicht, nicht allein dem Einzelsubjekt, sondern gleich der ganzen Gattung den einen, den ultimativen Imperativ zuzurufen: Ausrotten!
Auf dem Weg ins Nichts:
was wir verlieren.
was wir verlieren.
Unter der finalistischen Reste-Optik stellt sich unser Lebensprozess als Abrieb und fortwährender Seinsverschleiß dar, als Sog des Verschwindens. Was verlieren wir nicht alles im Laufe der Zeit: die Jugend, die Unschuld, die Gesundheit, die Liebe, die Kraft, die Freude, die Freunde, die Eltern, den Job, den Glauben, die Geduld, den Verstand – und zuletzt sogar das Leben selbst! Der Weg von der Fülle über die Zwischenstation der Reste ins Nichts ist unabänderlich vorgezeichnet. Mit dieser Wahrheit muss man zurecht kommen, und dies kann auf unterschiedliche Weisen geschehen. Man kann – erste Möglichkeit – den oben skizzierten Weg der Restkünstler einschlagen, das Leiden „besprechen“, es damit sublimieren und abmildern. Man kann – zweitens – gegen die eigene Restwerdung opponieren wie der zum Tode Verurteilte, der vergeblich versucht, den Kopf im letzten Moment aus der Schlinge zu ziehen. Der dritte Weg ist gekennzeichnet durch die Flucht in eine irrwitzige Dialektik: den Glauben, dass sich mit dem Übergang ins Nichts dieses unversehens in Seinsfülle verwandelt. Das ist das Bauprinzip aller jenseitigen Welten. Oder man erkennt – viertens – die Aussichtslosigkeit solcher Wendemanöver an und fügt sich in das Unabänderliche. Dieser vierte Weg temperiert den Rest, nimmt ihm seinen Schrecken und integriert ihn zugleich. Wer das in der europäischen Kultur diskreditierte und dämonisierte Nichts wiederentdeckt, so findet etwa Ludger Lütkehaus in seinem philosophiegeschichtlichen Werk „Nichts – Abschied vom Sein, Ende der Angst“ (1999), der wappnet sich stärker gegen die moderne Unruhe und Betriebsamkeit, die das Sein mit sich bringt. „Sterben zu lernen, um besser leben zu können“, an dieser Formel wird überdeutlich, worauf Lütkehaus mit seinem Plädoyer für die lebenspraktische Gelassenheit hinauswill: auf Selbstberuhigung. Aber auch andere Disziplinen haben nichts unversucht gelassen, den Verlust für sozial verträglich und seine „Überwindung“ als wünschbar zu erklären: Für die Psychologie markiert die „Ablösung“, d.h. die Auflösung einer seelischen Bindung oder Abhängigkeitsbeziehung, einen wichtigen Schritt in der psychosozialen Entwicklung des Individuums. – Doch können wir wirklich ruhig und gelassen sein angesichts der schmerzhaften Wahrheit, dass wir uns als Restposten unserer selbst permanent, unabänderlich und unwiederbringlich aufzehren? Dass wir Menschen und Dingen, die uns umgeben, nur im Modus des Loslassens und Abschiedsnehmens begegnen können? Was wäre denn, wenn sich im freien Fall eine ganz andere, gegenteilige Empfindung einstellt? Nämlich die, dass die kognitive Einverständniserklärung mit dem am eigenen Leib erfahrenen Substanzverlust nicht Schritt hält? Dass die Zeit davonrennt und wir im Eiltempo zerfallen, wie der Reisende im Sitz einer funktionsgestörten „Time Machine“? Dass sich das aushöhlende Leben nicht mehr mit Inhalten füllen lässt? Wer sagt denn, dass der zweite der Weg der falsche ist, nur weil sich der zu Exekutierende dem Kobold der Lächerlichkeit preisgibt? Überlassen wir das Schlusswort deshalb nicht den philosophischen und psychologischen Schönrednern, sondern geben wir stattdessen der englischen Exzentrikerin Edith Sitwell (1887–1964) die Ehre, die mit nur einem einzigen Satz ein illusionsloses Bild der Zukunft malt: „Dann wird alles vorüber sein, abgesehen vom Schreien und den Würmern.“
+ Der Autor F. MÜLLER