Transformationsdesign und reduktive Moderne: Im Gespräch mit Harald Welzer

Harald Welzer (2014) ©Foto: Wolfgang Schmidt/Rat für nachhaltige Entwicklung

»Die richtige Veränderung gelingt dann, wenn die Menschen auch ihren Job anders machen und den beruflichen Handlungsspielraum nutzen!«

– Prof. Harald Welzer im Gespräch mit Magazin für Restkultur –

[11|14] Die Frage ist ja eigentlich nicht mehr ob, sondern nur noch wann wir damit beginnen, unsere Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle zu verändern. Denn: Tun müssen wir es ja aufgrund schwindender Ressourcen, der zunehmenden Vermüllung unserer Umwelt und der Tatsache, dass wir an unsere Wachstumsgrenzen stoßen so oder so. Davon ist zumindest der Soziologe Professor Harald Welzer überzeugt, der mit der Plattform FUTURZWEI und in zahlreichen Publikationen auf die dringende Notwendigkeit eines planvollen Wandels und Umdenkens aufmerksam macht. 

Wir treffen Harald Welzer auf der Frankfurter Buchmesse 2014 und sprechen mit dem Transformationsdesign-Experten über …

... Politik und Wirtschaft,

Herr Welzer, hat die Kanzlerin Ihr neues Buch „Transformationsdesign“ eigentlich auch gelesen?

Harald Welzer: Ob die Kanzlerin das Buch selbst gelesen hat, das weiß ich nicht. Aber es ist schon so, dass es inzwischen auch auf Seiten der CDU ein großes Interesse an den Fragestellungen des Postwachstums und suffizienter Gesellschaftsmodelle gibt. Da werden dann sogar Leute wie ich als Experten eingeladen.

Und was sagen die Verantwortlichen der Industrieverbände zu Ihren Ideen?

Ich diskutiere ziemlich viel mit Unternehmern und sehe, dass wir ein ganz grundsätzliches Problem haben, das als direkte Folge aus den Ökodebatten der vergangenen Jahrzehnte herrührt. Es gibt viele Unternehmer, manche auch, von denen man es nicht erwarten würde, die die Probleme sehr realistisch sehen. Es gibt aber viel zu wenig Leute aus der Nachhaltigkeitsszene, die konkrete Schritte vorschlagen, um zusammen mit den Unternehmen etwas umzubauen. Wir haben eine eklatante Diskrepanz zwischen apokalyptischen Untergangsszenarien und wirtschaftlichen Handlungszwängen. Wo ist jetzt also der Korridor zwischen diesen beiden Extremen? Es gibt zwar nicht selten ein wirklich manifestes Interesse, Dinge zu ändern. „Was aber, verdammt noch mal, sollen wir machen?“, fragen sich viele, die versuchen einerseits nachhaltig(er) zu sein, aber wirtschaftlich überleben müssen. In meinen Augen ist das dann keine Greenwashing-Nummer, sondern tatsächliches Interesse. Seitdem wir FUTURZWEI ins Leben gerufen haben, bin ich sehr überrascht, von wem ich zu Gesprächen eingeladen werde. Aber es gibt natürlich auch jede Menge Holzköpfe.

Haben Sie denn auch ganz konkrete Einflussmöglichkeiten auf Unternehmen?

Es kommt ganz darauf an. Überall, wo es auf Vorstands- oder Geschäftsführerebene tatsächlich echte Transformierer und Leute gibt, die sagen „das geht so nicht weiter, wir müssen etwas ändern“, können wir auch beratend ein bisschen machen. Je größer die Unternehmen sind, umso größere Widerstände sind aber auch bei einzelnen Mitarbeitern spürbar. Obwohl der Handlungswille „von oben” da ist, zerbröselt es bei größeren Unternehmen zunehmend in der Komplexität des Betriebes und seiner Gliederungen. Als Sozialpsychologe kann ich aber zum Beispiel Ressourcen und Blockaden für Veränderungsprozesse im Unternehmen identifizieren. Und das geht weit über die gängigen Vorschläge hinaus wie „wir machen mal eine Klimawoche oder eine Informationsveranstaltung“.

  • FUTURZWEI
Wer die Plattform FUTURZWEI.org besucht, verpflichtet sich zunächst mindestens eine der Geschichten, die ihm dort begegnen, auch weiterzuerzählen. (Was auch übrigens uns dazu veranlasst hat, in unserer Rubrik »Wir schwören« Geschichten vom Gelingen weiterzutragen). Ausgehend von der Idee, dass „die zukunftsfähige Kultur des Lebens und Wirtschaftens nicht durch moralische Appelle entsteht“, wird hier auf ausgewählte Projekte und Initiativen aufmerksam gemacht. Die Stiftung, so die Initiatoren, setzt ihre Mittel ein, „um eine zukunftsfähige und enkeltaugliche Gesellschaft zu ermöglichen“. Der FUTURZWEI Zukunftsalmanach stellt außerdem in unregelmäßigen Abständen „Geschichten vom guten Umgang mit der Welt“ vor (der Zukunftsalmanach 2015/2016 erscheint Ende November 2014).

... die Transformation unserer Gesellschaft,

Eines Ihrer Hauptanliegen ist ja die Transformation unserer Gesellschaft hin zu einer reduktiven Moderne. Wie weit sind wir Ihres Erachtens mit dem Transformationsprozess?

Harald Welzer: Wenn ich die fatalistische Position einnehme, dann ist es eine völlige Illusion zu glauben, dass wir in irgendeiner Weise auf einem Pfad der Nachhaltigkeit sind. Das Gegenteil ist der Fall. Der zerstörerische Wachstumskapitalismus hat gerade eine unglaubliche Dynamisierungsphase durch die Globalisierung erreicht. Das ist jetzt auch kein Spät- oder Postkapitalismus, sondern die richtig große Party. Konkret bedeutet dies, dass überall dort, wo es nachhaltige Lebensformen gibt, diese ausgetauscht werden gegen nicht-nachhaltige. Ganz nach dem Vorbild der nordamerikanischen und europäischen Modelle. Kein Fahrrad und keine Rikscha mehr, sondern Autos und so weiter – und das setzt sich bis in die Ernährung hinein fort. Das ist die totale Katastrophe. Aber wir können auch die Perspektive umdrehen: Wir sehen in Deutschland, Österreich und in den südeuropäischen Ländern viele Initiativen, die sehr ernsthaft Dinge verändern. Die Frage ist hier nur: Wie kriegen wir das in eine politische Wirkmächtigkeit umgesetzt?

Wie könnte denn dieser Impuls der zahlreichen Graswurzelbewegungen irgendwann bis in die Politik vordringen? Haben wir überhaupt Zeit dafür?

Die Zeitfrage ist eigentlich irrelevant. Zeit kann nie ein Faktor dafür sein, dieses oder jenes zu tun. Generell halte ich es für politisch völlig verfehlt, beispielsweise mit dem Zeitfaktor hinsichtlich des Klimawandels zu argumentieren. Was wird denn aus dem 2-Grad-Ziel politisch, wenn man es de facto nicht mehr erreichen kann? Wenn aber die Postwachstumsbewegung, die getragen wird von ganz vielen Jugendlichen, schlagkräftiger wird, sich weiter entwickelt, von der Wortwahl und den Begriffen her eine gewisse Sexyness entwickelt, kann vielleicht so eine Art Stilwechsel einsetzen. Durch soziale Bewegungen entstehen schließlich Veränderungsprozesse. Man muss Vertrauen rein setzen, aber wenn nichts passiert, dann auch sagen können, „dann passiert es eben nicht“.

Welchen Beitrag glauben Sie bisher denn selbst zur einem Wandel geleistet zu haben?

Ich bin tatsächlich erstaunt. Wir haben mit FUTURZWEI einen Stein ins Wasser geschmissen, der doch Wellen schlägt. Wir haben diesen Wechsel vorgenommen weg von den Katastrophenerzählungen hin zum Gelingen von Geschichten. Dazu zählt das Starkmachen des Mediums „Geschichte“ schlechthin. Da ist eine gewisse Kraft entstanden, die sich auch abbildet bei meinem Buch „Selbst denken”. Das Buch war nicht nur ungeheuer erfolgreich und ist das meist ausgeliehene Sachbuch in öffentlichen Bibliotheken, sondern hat auch für viel direkte Resonanz gesorgt. Ich habe es noch nie erlebt und so viele E-Mails bekommen wie bei diesem Buch. Man merkt: Das bleibt nicht folgenlos. Ich weiß zwar nicht, wie man das quantifizieren kann, aber ich werde unheimlich oft darauf angesprochen.

  • TRANSFORMATIONSDESIGN

In einem Artikel des Süddeutsche Zeitung Magazin (Heft 39/2012) bringt der Ideengeber und Initiator Professor Harald Welzer die Idee hinter dem Begriff „Transformationsdesign“ so auf den Punkt: »Designern käme nicht mehr die Aufgabe zu, unablässig zusätzliche Dinge in die Welt zu bringen, sondern die, die man nicht braucht, aus der Welt zu schaffen. Also: nicht eine coole Flasche für ein Mineralwasser aus Fidschi entwerfen, sondern den Hinweis auf den nächsten Wasserhahn.« Weitere Informationen und Links haben wir hier zusammenstellt: Transformationsdesign

... die reduktive Moderne – und Träume,

Weniger haben wollen müssen – kann das nicht erst der, der schon hat? Das klingt doch bei vielen Menschen ja doch möglicherweise etwas zynisch.

Harald Welzer: Wenn Menschen am Existenzminimum in so einer hyperreichen Gesellschaft wie der unseren leben müssen, dann ist es tatsächlich absolut zynisch, ihnen zu sagen „wollt das doch nicht haben“ – was sich übrigens auch im globalen Maßstab sagen lässt. Zum in Würde leben können, gehört ein gewisser materieller Standard. Der Kontrast ist ja aber auch so extrem zwischen unserem Reichtum und der sozialen Ungleichheit sowohl innerhalb unserer Gesellschaft als auch außerhalb. Ich sage aber auch nicht den Wohlhabenden „verzichtet“, sondern gewinnt was: Nämlich Lebensqualität, in dem ihr das meiste von eurem Kram einfach weglasst. Der Spiegel hat mich mal einen „Überflusstherapeuten“ genannt und das gefiel mir eigentlich ganz gut … (lacht).

Apropos Überfluss: Kann Cradle to Cradle etwa Auswege bieten*?

Ich stehe dem Thema eher indifferent gegenüber, doch wenn ich einen skeptischen Standpunkt einnehme, dann würde ich sagen, dass es sich dabei eher um Prozessoptimierung handelt, die allerdings sinnvoll sein kann. Was mir nicht gefällt, ist der politische Rahmen, den Michael Braungart dem Ganzen gibt: Das Favorisieren von Verschwendung. Nur weil man technische Mittel hat, die Verschwendung zuzulassen, wird sie ja noch nicht wünschenswert. Ich bin außerdem gespannt, welche unabsichtlichen Handlungsfolgen sich in 20 Jahren bei dieser Prozessoptimierung herausgestellt haben werden. Kurz: Mir ist das Ganze ein wenig zu naiv und zuwenig kulturell verortet. Den Stein aber, den Braungart ins Wasser geschmissen hat, finde ich hingegen enorm wichtig. Da ist eine Perspektivenveränderung: Den Gedanken, Müll abzuschaffen, finde ich schlichtweg genial.  *[siehe auch: Magazin für Restkultur im Gespräch mit Michael Braungart]

Sie haben sich in einem Vortrag überzeugt davon gezeigt, dass circa drei bis fünf Prozent der Menschen in einer Gesellschaft erreicht werden müssen, damit ein Wandel einsetzt. Haben wir diese Zahl schon erreicht oder vielleicht sogar überschritten?

Das Potenzial gibt es – wir hatten ja weiter oben über Politik gesprochen. Wir haben in den unterschiedlichsten sozialen Gruppen ein Paar Prozent, denen Veränderung ein wirkliches Anliegen ist. Ich glaube, dass im Moment die gemeinsame Sprache und das gemeinsame Anliegen dafür fehlen – es ist noch gar nicht richtig formuliert. Das merkt man beispielsweise bei der Postwachstumsbewegung. Postwachstum ist ein Scheissbegriff, entschuldigen Sie die Deutlichkeit. Damit kriegt man keine Bewegung hin – was fehlt ist also so etwas wie ein gemeinsamer Nenner … 

Transition Country Deutschland vielleicht?

Nein, auch das ist nicht alltäglich genug. Schauen Sie sich die amerikanische Bürgerrechtsbewegung an.Einer der griffigen Slogans war ja „I have a dream“ …

… und Ihr Traum, Herr Welzer?

(zögert) Ich bin da eher bescheiden. Aber, wenn ich es etwas weniger pathetisch formulieren sollte: Ich würde mir eine freie Gesellschaft wünschen, mit all den immateriellen Standards, die diese westliche Demokratie erreicht hat. Das alles aber nicht ausgerichtet auf den individuellen Nutzen. Mit einer klassischen sozialen Marktwirtschaft und einem demokratischen Kapitalismus, wie das Wolfgang Streeck mal formuliert hat. Wir waren da schon mal enger dran und sind seit drei Jahrzehnten weggedriftet davon. Meine Gesellschaftsvorstellung ist also gar nicht so exotisch. Ich kann mir vorstellen, dass es privatwirtschaftliche Formen gibt, die gewissermaßen zivilisiert und gebändigt sind, dass es also einen gebändigten Kapitalismus gibt und dass so ein wirtschaftlicher Stoffwechsel gesellschaftliche Verhältnisse herstellen kann, in denen Menschen frei und gut leben können und in der Demokratie und Recht existieren – das ist für mich zentral. Und das wäre ja dann schon ein gesellschaftlicher Traum, den ich habe.

... über weniger Wachstum

Also alles bleibt, wie es ist – nur mit weniger Wachstum und weniger Konsum?

Harald Welzer: Naja, mit weniger von allem! Weniger Material und weniger Energie, was automatisch weniger Arbeitszeit, mehr Eigenarbeit, eine höhere Form von Gemeinschaftlichkeit bedeutet. Und auch weniger Mobilität, weniger Aufwand. Und ich gebe zu bedenken: Das ist schon eine recht komplexe Materie! Und es ist vor allem deshalb komplex, weil wir es einfach nicht kennen. Wir haben ja bislang den Track gehabt, es muss mehr von allem da sein – deshalb empfinden wir die Vorstellung als so seltsam, dass plötzlich weniger von allem da sein soll.

Werfen wir einen Blick zurück in die Zeit der Frühindustrialisierung vor knapp 250 Jahren, die viele der heutigen Entwicklungen erst begünstigt hat. Hätten Sie es damals geahnt und die Weichen ins Heute anders gestellt – oder mussten die heute sichtbar werdenden Fehler erst gemacht werden, um daraus zu lernen?

Das, was Menschen tun, schafft bestimmte Sachverhalte und Strukturbedingungen für das, was die nächsten Menschen tun werden. Diese Bedingungen gehen sehr weit und lassen sich zusammengefasst als Kultur bezeichnen. Das hat etwas unglaublich Gutes und Aufbauendes, aber zeitgleich auch etwas Negatives, weil es bestimmte Möglichkeiten auch ausschließt. Deshalb würde ich sagen, dass es politisch darauf ankommt, die Verhältnisse so offen wie möglich zu halten. Wenn Sie so einen Schwachsinn haben wie eine Atomtechnologie, bei der Sie damit rechnen müssen, dass der Müll 20.000 Jahre weiter strahlt und Sie sich heute Sprachen überlegen müssen, die Menschen auch noch in 10.000 Jahren verstehen, dann merkt man, dass das total falsch ist – das ist auch durch kein Argument zu retten. Es ist deswegen falsch, weil es Möglichkeiten schließt und eben nicht öffnet. Insofern hat man – um bei dem Bild zu bleiben – auch einen ganz guten Geigerzähler dafür, welche Richtungen erstrebenswert wird oder welche man eben vermeiden sollte: Alles, was irreversibel ist, sollte man einfach lassen. 

Schaut man sich um, dann wird man den Eindruck nicht los, dass wir uns auf die Transformation by Desaster und eben nicht by Design zubewegen …

Realistischerweise würde ich mich dieser Beobachtung anschließen, was allerdings nicht bedeutet, dass es nicht genug Handlungsspielräume gibt, die man nützten könnte, um das Desaster zu vermeiden. Das heißt, dass ich mein Augenmerk auf die Gestaltungs- und nicht auf die Verhinderungsmöglichkeiten lege. Das ist eigentlich alles.

... und über das neue Buch sowie über Appelle.

Kommen wir auf Ihr neues Buch Transformationsdesign zu sprechen, das Sie zusammen mit Bernd Sommer geschrieben haben: Wer sollte das Buch lesen und welche Schlüsse soll er aus der Lektüre ziehen?

Harald Welzer: Das Buch ist ja dadurch entstanden, dass wir die Debatte über Transformation, so wie sie derzeit stattfindet, für stark verkürzt halten, weil sie sich sehr stark auf Energie und Technokratie fokussiert. Wir brauchen eine viel breitere Perspektive, da Transformationen lange gesellschaftliche Prozesse sind, die sehr komplex und ungleichzeitig verlaufen. Es darf daher nicht nur beim Postulat „Transformation“ stehen bleiben, sondern es bedarf konkreter Beispiele, wie man Lebens- und Wirtschaftswelten anders gestalten kann. Das ist das Ziel des Buches. Lesen sollten das Buch meines Erachtens Studierende und junge Leute aus der Transition-Szene, die vielleicht noch Argumentationshilfen brauchen. Es muss schon ein Problembewusstsein bestehen, damit man dieses Buch vernünftig verwenden kann. 

Sie beschränken gleich am Anfang Ihres Buches den Blick auf Deutschland und ähnlich industrialisierten Gesellschaftstypen – reicht es denn, Transformationsprozesse nur in diesem Umfeld auszumachen und zu beschreiben?

Es geht ja nicht anders – ich kann nicht über die Handlungsmöglichkeiten in anderen Kulturkreisen sprechen. Dazu gibt es außerdem drei Argumente: Erstens haben wir ja den ganzen Schlamassel angerichtet, insofern gibt es auch eine historische Verantwortung. Zweitens: Ich kann ja beispielsweise keine Handlungsmöglichkeiten für China und schon gar nicht für ein ländliches China beschreiben – ich habe einfach keine Ahnung davon und es steht mir meines Erachtens nach auch gar nicht zu. Und drittens: Man muss ja gar nicht glauben, dass alles miteinander vernetzt und globalisiert ist. Das sind schließlich erstmal Behauptungen, die in der Medienwelt und in der Wirtschaft nicht absichtslos aufgestellt werden: „Wir können ja gar nicht anders, wir sind gezwungen und getrieben“. Das Komplexitätsargument beispielsweise ist grundfalsch. Die Welt wird  einfacher und nicht komplexer, wie der Anthropologe Claude Levy-Strauss zurecht festgestellt hat. Je mehr Kulturen ich habe, desto größer ist die vorhandene Komplexität. Je mehr Kulturen ich aber, wie zur Zeit, zum Verschwinden bringe, desto mehr vereinfache ich die Welt. Und wenn wir in nicht mehr ferner Zukunft eine einheitliche kapitalistische Google-Kommunikationskultur haben, dann haben wir die einfachste Kulturform, die es in der Menschheitsgeschichte je gegeben hat. Deshalb: Stimmt es eigentlich, was da so gesagt wird?

In der geschichtlichen Rückanalyse, die Sie in Ihrem Buch vornehmen, weisen Sie auf die sozialen Verwerfungen hin, die Transformationen in der Vergangenheit gezeitigt haben. Welche Gefahren sehen Sie bei zukünftigen Transformationsprozessen in unserer Gesellschaft?

Derzeitige weltweite Konflikte passieren ja nicht auf dieser Ebene. Wir haben ein riesiges Konfliktpotential durch neue Formen von Gewalt und durch unkontrollierbare innerstaatliche Konflikte. Ein Blick in die abendlichen Nachrichten reicht, um festzustellen, dass wir uns in einer unglaublich brisanten Situation befinden. Da sehe ich wesentlich größere Gefahren als vor dem Hintergrund klassischer sozialer Fragen. Wir haben ein Kulturproblem, das sich in radikale Gewalt übersetzt und zu einer entsprechenden Reaktionsbildung führt. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass ein Bundespräsident der Meinung ist, dass Deutschland eine „verantwortungsvollere“ Rolle auf der Welt spielen muss, was ja auch totaler Quatsch ist – davon abgesehen, dass sich ja gerade zeigt, dass wir das gar nicht können. Dennoch: Das sind ungute Entwicklungen und sobald Gewalt ins Spiel kommt, eskaliert alles. Das haben wir überhaupt nicht im Blick, da wir auf 70 Jahre Frieden zurückblicken können – fundamental könne sich also gar nichts ändern, denken die Menschen. Doch das kann unwahrscheinlich schnell gehen. In dieser Hinsicht bin ich arg besorgt. 

Zum Schluss, Herr Welzer, ein Appell an unsere Leser. Was können oder sollten diese vielleicht anders machen?

Ich neige zwar grundsätzlich nicht zum Appellieren, aber: Ich finde es schön und gut, wenn man auf der privaten Ebene Dinge verändert. Die Veränderung des Privaten ist ein unheimlich wichtiges Übungsprogramm, um sich eine andere kulturelle Praxis anzutrainieren, im Konsum, beim Essen, beim Wohnen und so weiter. Viel wichtiger ist es aber, dass die Menschen in ihren Jobs die Dinge verändern, da hier der Impakt viel größer ist. Die richtige Veränderung gelingt dann, wenn die Menschen auch ihre Job anders machen und den beruflichen Handlungsspielraum nutzen!

RSTKLTR_Transformationsdesign Bernd Sommer/Harald Welzer: Transformationsdesign
Wege in eine zukunftsfähige Moderne
Oekom Verlag, Taschenbuch 240 Seiten
19,95 EUR. Auch als E-Book erhältlich
ISBN 9783865816627
Erschienen September 2014

Herr Welzer, wir danken für das Gespräch.

Zur Person
PROF. HARALD WELZER
  • RSTKLTR-RNE-Harald-Welzer#2Soziologe/Sozialpsychologe Prof. Harald Welzer (55), Hannover
  • Initiator von FUTURZWEI
  • Honorarprofessor im Fach Transformationsdesign, Flensburg
  • Autor zahlreicher Publikationen und Bücher (»Selbst denken« u.a), gefragter Referent
  • Reste sind für ihn: Ich finde Reste interessant. Reste werden oft als nichtwertig und uninteressant betrachtet. Aber Reste sind ja auch zum Beispiel das, was von Kulturen und Traditionen übrig bleibt.
    ©Foto: Rat für Nachhaltige Entwicklung

Die Frage an uns
Wann immer möglich, bitten wir in unseren Gesprächen auch um eine Frage an uns – und machen den Interviewten kurzerhand zum Interviewer. Was wollen unsere Gesprächspartner über Magazin für Restkultur erfahren? Vielleicht sind es ja die gleichen Dinge, die auch unsere Leser von uns gerne wissen möchten. Die bisher gestellten Fragen – und unsere Antworten – sind unter Fragen an uns zu finden.
Harald Welzer (Soziologe, Autor) fragt:
Was will Magazin für Restkultur?
Auf Magazin für Restkultur versuchen wir uns dem Rest in seinen vermeintlich positiven – wie auch negativen – Formen zu nähern und rücken damit den allzu häufig negativ konnotierten Restbegriff in ein hoffentlich anderes Licht. Der Restbegriff selbst ist allerdings starken kontextbedingten Schwankungen ausgesetzt – und mitunter ja auch ein Ergebnis eines gewissen verschwenderischen Konsums …»Im Gespräch mit Harald Welzer, 11|2014«
 
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